Die Rolle der Reproduktionsarbeit
Gesellschaften erhalten und entwickeln sich nicht von alleine. Damit das Zusammenleben vieler Menschen an einem Ort funktioniert, braucht es eine Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Aufgaben. Die Produktion von Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kinderbetreuung und Altenpflege sind nur wenige Beispiele für solche Aufgaben, die Aufzählung könnte man endlos fortsetzen. Das Entscheidende an dieser Arbeits- bzw Aufgabenteilung ist, dass jeder einzelne Bereich essentiell für das Funktionieren des gesamten Systems ist: Fällt morgen die Produktion von Nahrungsmitteln oder die Altenpflege aus, wäre das Gesundheitssystem nach wenigen Wochen schwer überlastet; Würden sämtliche Bildungseinrichtungen schließen, gäbe es schon bald kein qualifiziertes Gesundheitspersonal mehr; Würde es keine Kinderbetreuung geben, hätten Lehrkräfte, die gleichzeitig Eltern sind, keine Zeit zu unterrichten.
Was ist eigentlich “Arbeit”?
Obwohl sich also all diese Bereiche gegenseitig bedingen und jeder einzelne essentiell für das Funktionieren unserer Gesellschaft ist, behandeln wir sie im Ergebnis völlig unterschiedlich: Das Großziehen von Kindern (und damit auch zukünftiger Arbeitskräfte) ist für das Funktionieren unserer Gesellschaft nämlich genauso unverzichtbar wie die Produktion von Nahrungsmitteln oder die Arbeit in unserem Gesundheitssystem. Die Organisation von Arbeit im Kapitalismus hat all diese essentiellen Aufgaben aber in zwei Kategorien unterteilt: die bezahlte (Lohnarbeit) und die unbezahlte (Reproduktionsarbeit).
Was ist Reproduktionsarbeit?
Unter Reproduktionsarbeit verstehen wir jene Tätigkeiten, die notwendig sind, um Arbeiter*innen zu “reproduzieren”; mit anderen Worten: Tätigkeiten, die notwendig sind, damit Arbeiter*innen jeden Tag fit in der Arbeit erscheinen können. Beispiele sind Kochen, Haushaltsführung, Kinderbetreuung und -erziehung, die Versorgung von Kranken/Alten, usw.
Unter Reproduktionsarbeit verstehen wir jene Tätigkeiten, die notwendig sind, um Arbeiter*innen zu “reproduzieren”; mit anderen Worten: Tätigkeiten, die notwendig sind, damit Arbeiter*innen jeden Tag fit in der Arbeit erscheinen können. Beispiele sind Kochen, Haushaltsführung, Kinderbetreuung und -erziehung, die Versorgung von Kranken/Alten, usw.
Das Abschieben der Reproduktionsarbeit in die private Verantwortung von Familien hat auch zu einer Verzerrung unserer Wahrnehmung von Arbeit geführt: Kochen, waschen, putzen im eigenen Haushalt; das Großziehen der eigenen Kinder oder das Pflegen der eigenen Eltern werden heute kaum noch als klassische “Arbeiten”, sondern vielmehr als familiäre Verantwortung wahrgenommen. Wenn wir “arbeiten” gehen, dann meinen wir damit in der Regel ausschließlich die Lohnarbeit. Das war nicht immer so: Auch die klassische Bauernfamilie im Feudalismus, die ein relativ selbständiges Leben führte, teilte sich die notwendige Arbeit auf - eine Person kümmert sich um die Landwirtschaft, eine um den Vertrieb, eine um den Haushalt und die Kinder - die Einnahmen aus der Landwirtschaft waren Einnahmen der gesamten Familie. Das mit dem Kapitalismus entstandene Phänomen der Lohnarbeit hat hier einiges verändert: Der Lohn ist nicht der Lohn der gesamten Familie, sondern desjenigen, der der Lohnarbeit nachgeht. Sehr häufig war und ist das der Mann, während sich die Frau um die Reproduktionsarbeit in den eigenen vier Wänden kümmert. Das mag vielerorts ein überholtes Familienbild sein, in großen Teilen der Welt stellt es aber nach wie vor die Realität dar. Zwar wird das Einkommen in solchen Situationen in der Regel für den Erhalt der gesamten Familie verwendet, im Zweifel kann der Lohnarbeiter darüber aber alleine entscheiden; (Haus-)Frauen werden folglich also in eine starke Abhängigkeit von ihren Männern gebracht und ihre (nach wie vor essentielle) Arbeit nicht nur unbezahlt, sondern auch völlig unsichtbar.
Diese neue Stellung von Reproduktionsarbeit im Kapitalismus ist aber keinesfalls durch Zufall entstanden, sondern verfolgt einen bestimmten Zweck. Das Vorhandensein von “unbezahlter Arbeit” ist für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft nämlich essentiell:
Die Lohnarbeit im Kapitalismus
Wenn wir von “Ausbeutung der Arbeiter*innen” sprechen, dann geht es im Kern um das kapitalistische Phänomen der Lohnarbeit. Es fehlt an Raum und Zeit, diesen Vorgang einer ausführlichen Analyse zu unterziehen; wenn wir die Rolle der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus aber verstehen wollen, müssen wir uns zunächst kurz der Lohnarbeit zuwenden: Wer acht Stunden am Tag seiner ‘Lohnarbeit’ nachgeht, der schafft in dieser Zeit einen bestimmten Wert: Der Bäckereiangestellte etwa durch das Backen von Semmeln, der Tischlereiangestellte durch das Herstellen von Möbeln. Die Semmeln und Möbel gehören aber nicht dem Arbeiter selbst, sondern dem Eigentümer der Bäckerei/Tischlerei, der sie im Anschluss auch weiterverkauft. Als Gegenleistung für den Wert, den der Angestellte durch seine Arbeit erzeugt, erhält er vom Arbeitgeber seinen Lohn. Es handelt sich somit um eine Art von Leistungsaustausch (Arbeit für Lohn), dem aber eine Besonderheit zu Grunde liegt: Der Wert, den die Angestellten durch ihre Arbeit erzeugt (Backen von Semmeln, Herstellen von Möbeln) ist immer höher als der Wert ihrer Löhne. Die Differenz zwischen dem Wert der tatsächlich geleisteten Arbeit und dem Wert des Lohns wird von Karl Marx als “Mehrwert” bezeichnet. Der Mehrwert ist somit jener Betrag, den der Angestellte zwar durch seine Arbeit schafft, der aber letztlich ausschließlich dem Eigentümer des Betriebs zufließt. Im alltäglichen Sprachgebrauch reden wir heute auch von (Unternehmens-)Gewinn. Dieser “Mehrwert” bzw. “Gewinn” ist nicht nur der zentrale Anknüpfungspunkt für unsere Ausbeutungs- und Klassenanalyse (Kapitalisten bereichern sich an der Arbeit der Arbeiter:innen), sondern auch die zentrale Voraussetzung für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft: Ein Unternehmen wird am freien Markt nämlich nur solange überleben, solange es regelmäßig Gewinne erwirtschaftet. Die unbezahlte Reproduktionsarbeit hat für das Erzielen dieser Gewinne eine größere Bedeutung, als auf den ersten Blick ersichtlich.
Die Rolle der Reproduktionsarbeit
Die Höhe des Gewinns (Mehrwerts) und die Höhe des Lohns verhalten sich zueinander wie kommunizierende Gefäße: Steigen die Löhne der Arbeiter*innen, sinkt der Gewinn des Arbeitgebers; sinken die Löhne, steigt der Gewinn. Die Höhe des Lohns ist hierbei nach Marx aber keine Zufallsgröße; auch der Arbeitgeber hat ein Interesse daran, dass der Lohn gewisse Grenzen nicht unterschreitet: Könnten sich seine Angestellten beispielsweise keine Nahrungsmittel oder Hygieneprodukte mehr leisten, wären sie schon bald nicht mehr imstande zu arbeiten. Folglich muss der Lohn immer jene Höhe erreichen, die notwendig ist, damit sich der Arbeiter selbst reproduzieren kann, also auch am nächsten Tag fit und gesund in der Arbeit erscheinen kann. An diesem Punkt kommt die unbezahlte Reproduktionsarbeit ins Spiel: Die Reproduktion der Arbeitskraft wird nämlich - häufig - von der unbezahlten Hausfrau übernommen: Sie kocht das Essen, reinigt die Wohnung, zieht die Kinder groß. Würde man diese unbezahlten Tätigkeiten wegdenken, müssten sie durch bezahlte ersetzt werden. Sie sind nämlich - wie oben beschrieben - unverzichtbar für das Funktionieren einer Gesellschaft: Das Essen müsste (teurer) bestellt werden, zur Reinigung der Wohnung wäre eine bezahlte Reinigungskraft notwendig, die Kinder müssten in kostspielige Betreuungseinrichtungen gebracht werden. Ohne unbezahlter Reproduktionsarbeit wäre der Arbeitgeber also gezwungen, höhere Löhne zu bezahlen - andernfalls wären seine Angestellten schon bald außerstande, sich und ihre Familien zu erhalten.
Löhne lassen sich im Kapitalismus aber nicht so einfach und vor allem nicht dauerhaft erhöhen. Wie oben beschrieben geht jede Erhöhung auf die Kosten des Unternehmensgewinns; bleibt dieser aus, funktioniert das gesamte Unternehmen nicht mehr. Im Ergebnis sehen wir also, dass unbezahlte Reproduktionsarbeit eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Gewinne überhaupt erzielt werden können. Manche können diese immense wirtschaftliche Bedeutung von unbezahlter Reproduktionsarbeit vielleicht nicht ganz nachvollziehen: Im eigenen Umfeld erleben viele von uns, dass Reproduktionsarbeit häufig im bezahlten Rahmen abläuft: Im Kindergarten, in der Schule, im Pflegeheim, oder auch durch bezahlte Reinigungskräfte. Tatsächlich gibt es in (wenigen) Teilen dieser Welt funktionierende Sozial-, Bildungs-, und Gesundheitseinrichtungen, die einen Teil der unbezahlten Care-/Reproduktionsarbeit „verstaatlicht“ haben. Außerdem sind viele von uns außerhalb des traditionellen Familienbilds aufgewachsen und haben erlebt, dass beide Eltern einer Lohnarbeit nachgegangen sind.
Diese Realität mag in Österreich verbreitet sein, weltweit stellt sie aber eine absolute Ausnahme dar. Staatliche Kinderbetreuung und Altenpflege gibt es genauso selten wie ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitssystem; Familien bestehen meistens nicht aus null, ein oder zwei Kindern, sondern aus 4-5. Diese Umstände machen innerfamiliäre (und unbezahlte) Reproduktionsarbeit unausweichlich; würde sie wegfallen, würde die Gesellschaft in sich zusammenbrechen.
Durch die zunehmende Auslagerung und neue Organisation von Reproduktionsarbeit in diversen europäischen (Sozial-)Staaten, hat die dahinter stehende Arbeit aber nicht gerade eine Aufwertung erfahren: Krankenpfleger*innen, Heimhelfer*innen, Elementarpädagog*innen, Reinigungskräfte, Essenslieferant*innen, sie alle haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind Paradebeispiele für ausgelagerte Reproduktionsarbeit, ohne die unsere Gesellschaft keinen Tag lang funktionieren würde. Es sind aber genauso Paradebeispiele für Tätigkeiten, die (trotz ihrer enormen Bedeutung) massiv unterbezahlt sind und damit auch eine regelmäßige Abwertung erfahren. Eine faire Organisation von Reproduktionsarbeit kann sich also nicht (nur) darauf beschränken, die Arbeit im unbezahlten Rahmen gerechter zwischen den Geschlechtern aufzuteilen; sie muss auch eine faire Entlohnung für jene beinhalten, die jeden Tag im Krankenhaus, im Kindergarten oder in der Restaurantküche unsere Gesellschaft am Laufen halten.
Text: Noah Straubinger