Eine Demokratie ohne Mitbestimmung

Wieso in Österreich Millionen Menschen nicht wählen dürfen und wie unser veraltetes Staatsbürgerschaftsrecht strukturell diskriminiert

2024 finden in mehr als 60 Staaten Wahlen statt, rund die Hälfte der Weltbevölkerung darf an ihnen teilnehmen. Das globale Superwahljahr macht auch vor Österreich nicht halt: Am 29. September wird der Nationalrat und damit auch die Regierung neu gewählt. Diese Wahl wird eine historische, denn sie wird bestimmen, in welche Richtung sich Österreich entwickeln wird. Zum ersten Mal könnte die FPÖ mit ihrem offen rechtsextremen Kurs den Kanzler stellen. Der selbsternannte “Volkskanzler” (ein Begriff, den übrigens schon Hitler genutzt hat) Herbert Kickl und die gesamte freiheitliche Partei sprechen schon seit geraumer Zeit davon, Menschen mit Migrationshintergrund im großen Stil zu einer “Remigration” zwingen zu wollen. 2024 sieht sich die 2. Republik also vor einer Richtungsentscheidung: Auf der einen Seite liegt die Vision eines progressiven, offenen und modernen Österreichs. Demgegenüber steht eine Autokratie ganz im Orban’schen Stil: Ein Staat, in dem die unabhängige Justiz geschwächt, die Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt wird und darüber hinaus Tausende Menschen “remigriert”, also de facto abgeschoben werden sollen.

 

Mitbestimmung für alle? Fehlanzeige!

Obwohl es bei dieser Wahl um einiges geht, wird ein nicht unwesentlicher Teil unserer Gesellschaft seine Meinung dabei nicht einbringen können: Im Herbst werden in Österreich 1.5 Millionen Menschen nicht wählen dürfen, weil sie die österreichische Staatsbürger*innenschaft nicht besitzen, das entspricht fast einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. In Wien darf sogar ein Drittel der Einwohner*innen nicht mitbestimmen, wer sie die nächsten fünf Jahre lang regieren wird. Wie kann es in einer “Demokratie”, in der doch die Herrschaft durch und für das Volk gelten soll, dazu kommen?

 

Die Staatsbürger*innenschaft - institutionalisierte Diskriminierung

Der häufigste Grund, dass Personen, die in Österreich leben, nicht an Wahlen teilnehmen dürfen, ist ihre Staatsbürger*innenschaft. Die rein technische Definition von Staatsbürger*innenschaft ist “Das Rechtsverhältnis der Zugehörigkeit einer Person zu einem bestimmten Staat”. Sie legt also fest, welche Personen einem gewissen Staat angehören und damit natürlich auch, für wen ein Staat überhaupt zuständig ist. Wenn es Personen gibt, die einem Staat zugehörig sind, heißt das aber natürlich auch, dass es Menschen gibt, für die er sich eben nicht zuständig fühlen muss. Durch ihre bloße Existenz teilt die Staatsbürger*innenschaft damit Menschen, die im gleichen Land zusammenleben, in ein “Wir” und in ein “die Anderen”, in ein “die Staatsbürger*innen” und ein “die Fremden”. Damit kann sie natürlich auch als effektives Instrument genutzt werden, um gewisse Personengruppen sozial, politisch aber auch wirtschaftlich zu benachteiligen und auszugrenzen. 

 

Wer darf wählen?

Neben dem vollendeten 16. Lebensjahr ist eben auch der Besitz der österreichischen Staatsbürger*innenschaft die Voraussetzung dafür, in Österreich an Wahlen teilnehmen zu dürfen. Dabei gibt es einige Ausnahmen. EU-Bürger*innen mit Hauptwohnsitz in Österreich dürfen an EU-Wahlen teilnehmen, ebenso an Gemeinderatswahlen und in Wien an Bezirksvertretungswahlen. Das Wahlrecht kann einem aber auch entzogen werden: Wenn man z.B. für Hochverrat oder ein anderes Delikt, das eine Freiheitsstrafe von 5 oder mehr Jahren nach sich zieht, rechtskräftig verurteilt wurde. 

 

Die Geschichte des Wahlrechts

Lange Zeit herrschte in Europa der Absolutismus. Einige wenige, sehr reiche Familien herrschten als Kaiser oder Könige über den Kontinent. Über die Jahrhunderte entwickelte sich allerdings immer mehr Widerstand gegen die Diktatur des Adels: Die Aufklärung und die technische Entwicklung hatten den Glauben an das Christentum und dadurch auch an die Herrschaftslegitimation der obersten Klasse geschwächt. Nach der Märzrevolution von 1848 wurde immer deutlicher, dass die Königshäuser Europas letztendlich wohl gestürzt würden, wenn sie nicht allmählich begannen, der Bevölkerung Zugeständnisse zu machen und mehr Mitbestimmung im politischen Tagesgeschäft zu ermöglichen.

1873 konnte die Bevölkerung in Österreich das erste Mal das Abgeordnetenhaus wählen – genauer gesagt: Ein winziger Teil der Bevölkerung konnte das. Denn schon damals waren bei weitem nicht alle wahlberechtigt: Es galt das sogenannte „Zensus- und Kurienwahlrecht“. Alle Wahlberechtigten wurden in vier sogenannte „Kurien“ eingeteilt: 1. Großgrundbesitzer, 2. Städte, Märkte und Industrieorte, 3. Handels- und Gewerbekammern und 4. Landgemeinden. Um überhaupt eine Stimme abgeben zu dürfen, musste man allerdings ein gewisses Niveau an Steuern bezahlen („Zensuswahlrecht“). De facto musste man also reich sein und dem Staat viele Steuern einbringen, um mitbestimmen zu dürfen. Darüber hinaus hatten Frauen kein Stimmrecht; nur in der Kurie der Großgrundbesitzer durften sie wählen, allerdings musste ein Mann ihre Stimme für sie abgeben. Aufgrund der hohen Steuer-Mindestsätze, die man bezahlen musste, um wählen zu dürfen, waren die meisten männlichen Bauern und Arbeiter nicht stimmberechtigt. Und selbst wenn sie wählen durften, hatte die reichste Bevölkerungsschicht, obwohl sie zahlenmäßig deutlich unterlegen war, fast genauso viel politischen Einfluss: Die Kurie der Großgrundbesitzer, die aus weniger als 5.000 Menschen bestand, wählte 85 Abgeordnete, während die 18 Millionen Einwohner*innen der Landesbezirke durch nur 131 Stimmen vertreten waren. Eine mehr als grobe Schieflage.

Erst ab 1907 galt ein allgemeines, gleiches und freies Wahlrecht für Männer. Die Frauen, die vorher stimmberechtigt waren (auch wenn sie diese nicht selbst abgeben durften), wurden von da an allerdings wieder vom Wählen ausgeschlossen. Erst seit 1918 dürfen auch Frauen an Wahlen teilnehmen. Doch egal ob unter absolutistischen Kaisern oder unter dem heutigen Staatsbürgerschaftsrecht: Es gab nie ein wahrlich universelles Wahlrecht, das für alle in unserer Gesellschaft gleichermaßen galt. Allerdings ist das Wahlrecht nicht das einzige Privileg, das mit dem Besitz der Staatsbürger*innenschaft einhergeht. 

 

Ein Recht auf Arbeit?

Egal ob die Bezeichnung “Wirtschaftsflüchtling” oder “Sozialschmarotzer” verwendet wird, Konservative und rechte Kräfte versuchen, aus der Erzählung der angeblichen “Arbeitsverweigerer” seit Jahren politisches Kapital zu schlagen. Fakt ist aber: Als Flüchtling Arbeit zu bekommen, ist alles andere als einfach. Dass Geflüchtete bei einem monatlichen Taschengeld von gerade einmal 40 Euro wohl sehr gerne arbeiten würden, liegt auf der Hand. Die Schwierigkeiten als Asylwerber*in eine Beschäftigung zu bekommen, hängt zum Teil auch mit der Staatsbürger*innenschaft zusammen, denn während mit ihr eine universelle Arbeitserlaubnis einhergeht, herrscht in den ersten 3 Monaten eines Asylverfahrens ein universelles Beschäftigungsverbot für Geflüchtete. Danach kann zwar um eine Beschäftigungsbewilligung angesucht werden, diese werden aber nur in Form von Saisonbeschäftigungen für maximal 6 Monate und darüber hinaus nur in den Branchen Land- und Forstwirtschaft sowie im Winter- und Sommertourismus genehmigt. Keine dieser Branchen ist im Übrigen für gute Bezahlung bekannt. 

Die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung hängt aber auch davon ab, ob “Österreicher*innen”, also Staatsbürger*innen für den Job zur Verfügung stehen. Die Staatsbürger*innenschaft ist damit auch ein Instrument, festzulegen, wer, in welcher Form, zur Teilnahme am wirtschaftlichen Geschehen berechtigt ist und damit auch, wem es überhaupt möglich ist, die eigene wirtschaftliche und soziale Lage zu bestimmen. Wer nicht einmal arbeiten darf, der kann, entgegen der Erzählung der Rechten, auch unmöglich versuchen, seine eigene sozioökonomische Situation zu verbessern. Egal ob zum Arbeiten oder um an Wahlen teilzunehmen: Die Staatsbürger*innenschaft ist der Grundstein, um am politischen und wirtschaftlichen Leben unserer Gesellschaft teilzunehmen. 

 

Der lange Weg zur Staatsbürger*innenschaft

Die Staatsbürger*innenschaft zu bekommen, ist in Österreich alles andere als einfach. Nach dem Migration Integration Policy Index, liegt Österreich mit 13 von 100 möglichen Punkten auf der Seite der Staaten, in denen es mitunter am schwierigsten ist, Staatsbürger*in zu werden.

Um die Staatsbürger*innenschaft zu beantragen, muss man sich zumindest 10 Jahre lang “rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet” aufgehalten haben. Als rechtmäßiger Aufenthalt zählen ein Visum oder ein Asylrecht. Sehr wichtig im Bezug auf Geflüchtete: Während ihres Asylverfahrens halten sie sich noch nicht “rechtmäßig” in Österreich auf, das tun sie erst, wenn dieses abgeschlossen ist und ihnen ein internationaler Schutzstatus zuerkannt wurde. Ein Asylverfahren kann Jahre dauern, es kann dadurch dazu kommen, dass sich eine geflüchtete Person vielleicht schon seit 10 oder mehr Jahren in Österreich aufhält, sie aber dennoch nicht die Staatsbürger*innenschaft beantragen kann, weil die Zeit ihres Asylverfahrens nicht zu den benötigten 10 Jahren gezählt wird.

Außerdem müssen Deutschkenntnisse auf B2-Niveau nachgewiesen werden, um die Staatsbürger*innenschaft zu erlangen. Eine weitere Voraussetzung ist das positive Bestehen eines Tests, bei dem Fragen über Demokratie, Menschenrechte und die Geschichte Österreichs zu beantworten sind. Dazu sei erwähnt, dass diese Fragen scheinbar willkürlich ausgewählt wurden und keinen Aufschluss darüber geben, ob jemand Anspruch auf die Staatsbürger*innenschaft hat oder an Wahlen teilnehmen kann. Ganz sicher könnte ein nicht unwesentlicher Teil der Staatsbürger*innen diese Fragen nicht korrekt beantworten. 

 

Politische Mitbestimmung - Eine Frage der Geldbörse

Um die Staatsbürger*innenschaft zu erlangen, muss man ebenso einen “hinreichend gesicherten” Lebensunterhalt nachweisen. Das heißt, dass man monatlich einen gesetzlich festgelegten Einkommenswert erreichen muss und das über die Zeitspanne von einem halben Jahr. Dieser gesetzliche Wert liegt für Einzelpersonen bei 1.217,96 Euro. Dieser Betrag muss der beantragenden Person am Ende jedes Monats noch übrig bleiben, nachdem vom Gehalt die Lebenskosten abgezogen wurden! Das ist eine Last, die selbst ein großer Teil der österreichischen Staatsbürger*innen nicht stemmen könnte und somit ebenfalls als bewusste Provokation im Beantragungsprozess zu verstehen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Personen ohne österreichische Staatsangehörigkeit oft in Branchen arbeiten, die wahnsinnig schlecht bezahlt sind. Laut der AK machen ausländische Staatsbürger*innen zum Beispiel in Wien 46% der Personen in Berufen mit niedrigem Berufsprestige wie Reinigungskräfte, Abfallentsorger*innen oder auch Hilfsarbeiter*innen in der Landwirtschaft aus. Viele dieser Branchen, in denen Menschen mit Migrationshintergrund oft überrepräsentiert sind, sind systemrelevant. Unsere Gesellschaft funktioniert ohne diese Arbeiter*innen nicht. 

 

Lange Wartezeiten und hohe Gebühren

Zu all diesen, teils absurden Hürden, die Geflüchteten in den Weg gestellt werden, wenn sie österreichische Staatsbürger*in werden wollen, gesellt sich allerdings noch eine mindestens genauso zeitraubende, furchtbar nervenaufreibende und frustrierende Aufgabe: Der Kampf mit der österreichischen Verwaltung. In Wien ist die MA 35 für die Staatsbürger*innenschaft zuständig. Eine Behörde, die fast schon als legendär für ihre Erfüllung der Klischees um Beamte gilt. Auf einen ersten Gesprächstermin zum Thema Antrag auf Staatsbürger*innenschaft wartet man bei der MA35 ein ganzes Jahr! Die Wartezeiten sind extrem lang und üben umso mehr psychischen Druck auf Geflüchtete aus. Zusätzlich zu all dem müssen auch Bundes- und Landesgebühren in Höhe von insgesamt (je nach Bundesland) über 1.000 Euro bezahlt werden. 

 

Das Wahlrecht als Klassenfrage

Damals waren es die Reichen und Adeligen in den Kurien, heute sind es diejenigen, die mit einer Staatsbürgerschaft geboren wurden oder es sich leisten können, eine zu bekommen. Seit über 150 Jahren gilt: Politisch mitbestimmen dürfen nur die, die es sich leisten können. Dass man sich in einer Gesellschaft nicht willkommen fühlt, die einem kein Mitspracherecht und keine Teilhabe ermöglicht und fast unüberwindbare Hürden in den Weg legt, ist verständlich. Dass genau die Parteien, die mehr “Integration” fordern, auch diejenigen sind, die davon sprechen, dass man auf gar keinen Fall alle Menschen wählen lassen sollte, weil die Staatsbürgerschaft damit “entwertet” werden würde, zeigt ihre Heuchelei. Denn eine echte Einbindung von Geflüchteten kann nur dann funktionieren, wenn man sie an den großen politischen Entscheidungsmechanismen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben lässt. 

Als Sozialist*innen muss der Kampf für das Recht auf politische Mitbestimmung für alle Arbeiter*innen immer oberste Priorität haben. Ein Wahlrecht für alle, die am täglichen Leben unserer Gesellschaft beteiligt sind, muss unsere Forderung sein. Denn ohne Demokratie kann es keinen Sozialismus geben. Als Fazit bleibt: Nach 150 Jahren ist das Wahlrecht noch immer eine Frage der Klasse. Dass so viele Menschen in Österreich ihrer Stimme beraubt werden, ist in Zeiten, in denen Demokratien global geschwächt werden, rechte Parteien am Aufstieg sind und im Kontext des Superwahljahres 2024 jedenfalls nur umso beunruhigender.

 

Text: Raphael Prinz