Neoliberale Sozialdemokratie - Ein Blick in den Abgrund

Kürzungen im Sozialstaat, Privatisierungen, Steuersenkungen, Aushöhlen der Rechte der Arbeiter*innen, Deregulierung und Förderung der „freien“ Marktwirtschaft: Ab den 1970er Jahren breitete sich der Neoliberalismus aus, eine besonders entfesselte Form des Kapitalismus. 

 

Das Wort Neoliberalismus ist seit vielen Jahren in aller Munde. Rechte und Konservative tun den Begriff häufig als “Kampfbegriff” ab und distanzieren sich davon. Der Neoliberalismus verbreitete sich ab den 1970er Jahren in der westlichen Welt und brachte viele negative Auswirkungen für die arbeitende Bevölkerung mit sich. Dabei wurde auf Steuersenkung, Privatisierung und einen “schlanken” (Sozial-)Staat gesetzt. Der Staat sollte sich von der Wirtschaft fernhalten und nur als Schiedsrichter für das Funktionieren des “freien” Marktes dienen. Denn obwohl staatliches Handeln seitens der Neoliberalen stark kritisiert wird, betrachten sie den Staat dennoch als Garanten für das Recht auf Eigentum oder als Helfer in der Not. 

 

Außerdem impliziert der Neoliberalismus eine enorme Verantwortung für das Individuum: Denn im neoliberalen Kapitalismus könne es bekanntlich jede*r schaffen, aber nunmal leider nicht alle. Auch die Sozialdemokratie blieb davon nicht verschont und es schlichen sich zunehmend neoliberale Ideen in die Parteiprogramme ein. Man trug aktiv dazu bei, das Mantra Sozialabbau, Privatisierung und Steuersenkung zu verbreiten.

 

“Der Dritte Weg”

Mit der Verbreitung des Neoliberalismus wurde auch der sogenannte Nachkriegskonsens zwischen sozialdemokratischen und konservativen Parteien aufgekündigt. In der Zeit nach dem Krieg wuchs die Wirtschaft noch rasant. Diese Zeit, die auch als “Fordismus” bezeichnet wird, war geprägt von der Einführung der Massenproduktion und die Steigerung der Produktivität war verbunden mit einem Anstieg des Lebensstandards für viele Menschen. Die Überzeugung war weit verbreitet, dass ein höheres Einkommen der Arbeiter*innen zu vermehrtem Konsum führen würde, was wiederum der gesamten Wirtschaft zugutekommen könnte - eine Art positiver Kreislauf. Außerdem gab es einen starken Staat und damit zahlreiche staatliche Interventionen in der Wirtschaft sowie staatliche Programme zur Förderung von Infrastruktur, Bildung und sozialer Sicherheit. Es entstand der Glaube, die Ära des Klassenkampfs sei vorbei und man könnte eine soziale Marktwirtschaft möglich machen. Doch diese Phase hielt nicht lange an. Der breite gesellschaftliche Konsens und die Zusammenarbeit zwischen Vertreter*innen der Arbeit und der Wirtschaft nahm ein Ende, eine neue Phase des “Klassenkampfes von oben” begann. 

 

Einen großen Einfluss auf die Verbreitung des Neoliberalismus hatte die Mont Pelérin Society. Unter dem Zutun von Milton Friedman, Friedrich August von Hayek und anderen liberalen Ökonom*innen schufen sie ab 1947 ein Netzwerk aus Denkfabriken, deren Ziel es war, die Ideen des Liberalismus (Steuersenkungen, Abbau des Sozialstaates, Privatisierung) zu fördern sowie dem Aufstieg des Keynesianismus und des Sozialismus in der Nachkriegszeit entgegenzuwirken. Gefordert wurde eine Abkehr vom Wohlfahrtsstaat hin zu einer neoliberalen Wirtschaft. Mitglieder der Mont Pelérin Society waren an Universitäten stark vertreten und waren wichtige ideologische und finanzielle Unterstützer*innen von mächtigen Politiker*innen. Sie hatten daher maßgeblich Einfluss auf die vorherrschende Meinung in der Gesellschaft sowie die Wirtschaftspolitik von Staaten und forcierten damit ab den 1980ern eine konservative Wende in Europa.

 

Die Sozialdemokratie sah sich nun in der Defensive. Doch anstatt mit Klassenkampf von unten zu antworten, begab sie sich ebenfalls in liberale Gefilde. Unter der Bezeichnung “Dritter Weg” formierte sich in der Sozialdemokratie ein Ansatz, der einen Mittelweg zwischen dem traditionell sozialistischen Ansatz der Systemtransformation und Umverteilung und dem liberalen Ansatz der freien Marktwirtschaft zu finden glaubte. Diese Idee fand ab den 90er Jahren immer mehr Zuspruch. Tony Blair in Großbritannien und Gerhard Schröder in Deutschland waren führende Vertreter dieses Ansatzes. Durch die Hinwendung zu neoliberalen Dogmen wollten sie die Sozialdemokratischen Parteien ihrer Länder in den 1990ern “modernisieren”. Man wollte mit dem Zeitgeist gehen, um wieder bessere Wahlergebnisse zu erzielen. Schröders Regierung verabschiedete eine Reihe von Reformen im Rahmen der sogenannten Agenda 2010. Diese Maßnahmen zielten darauf ab, die deutsche Wirtschaft zu liberalisieren und die Arbeitsmarktflexibilität zu erhöhen. Dazu gehörten Arbeitsmarkt- und Sozialreformen wie die Einführung von Minijobs (geringfügig entlohnte Beschäftigung), Hartz IV (eine Reform der Arbeitslosenunterstützung, die vor allem zu mehr Armut und Prekarität führte) und die Lockerung des Kündigungsschutzes. Daneben senkte er die Einkommensteuer und die Steuern für Unternehmen, privatisierte staatliche Betriebe wie die Deutsche Bahn und Post und setzte sich für befristete Arbeitsverträge und die Senkung der Lohnnebenkosten ein, quasi eine neoliberale Bilderbuch-Politik. Auch Blairs Regierung setzte auf ähnliche Maßnahmen. Beide glaubten an die Kraft und Effizienz der Märkte, um soziale Gerechtigkeit zu fördern - ein Trugschluss!

 

Ähnliches vollzog sich in Österreich. Man blieb von Reformen wie Hartz 4 verschont, jedoch wurden auch bei uns staatliche Betriebe privatisiert und man trug in Koalitionen mit der ÖVP Steuergeschenke für Reiche und Unternehmen mit. Bei der “Modernisierung” der Partei hinkte man der deutschen und englischen Schwesterpartei allerdings um nichts nach. Wörter wie Kapitalismus, Klassenkampf und Arbeiter*innenklasse strich man komplett aus seinem politischen Vokabular und ersetzte sie durch Wörter wie: soziale Marktwirtschaft, Fortschritt und Wettbewerbsfähigkeit. Die Folge war eine zunehmende Prekarisierung der Arbeiter*innenklasse und diese erkannte, teils bewusst, teils unterbewusst eines: Man wird nicht mehr von der Sozialdemokratie vertreten. Man hatte nicht mehr das Gefühl, dass die Sozialdemokratie Politik für die arbeitende Bevölkerung macht und wandte sich von ihr ab. Rechte Parteien boten einfache Lösungen und scheinbar eine Alternative. So schaufelte sich die Sozialdemokratie ihr eigenes Grab und schuf den Nährboden für einen erneuten Rechtsruck.

 

Klassenkampf statt Kulturkampf

Von den ursprünglichen Forderungen der starken europäischen Sozialdemokratien der Zwischen- und Nachkriegszeit sind nur mehr gesellschaftspolitische Ansätze geblieben. Die wirtschaftspolitischen Forderungen, wie das Streben nach einer Transformation von Kapitalismus zum Sozialismus, der Wunsch nach einer großzügig angelegten Umverteilung des Reichtums in der Gesellschaft sowie nach bedingungsloser Solidarität, sind in den 1990er Jahren verloren gegangen. Die Sozialdemokratischen Parteien haben mit dem “Dritten Weg” versucht, Sozialismus und Kapitalismus zu vereinen, quasi “the best of both worlds”, und nicht erkannt, dass diese beiden Systeme fundamental im Widerspruch zueinander stehen. Die Sozialdemokratie muss sich nun selbstkritisch mit dieser Zeit beschäftigen und Versäumnisse im Umgang mit dem Neoliberalismus erkennen. Sie muss Maßnahmen des “Dritten Wegs” revidieren und wieder für echte Verbesserungen für Arbeiter*innen kämpfen. Wir sagen: Linke Politik muss sich wieder trauen, die Systemfrage zu stellen und eine Vision einer Zukunft bieten, in der ein gutes Leben für alle möglich ist. Auf Klassenkampf von oben müssen wir mit Klassenkampf von unten antworten.

 

Text: Philipp Braun, Sarah Fuchs