Traiskirchen: Zwischen Himmel und Hölle
Für viele Schutzsuchende, die in Österreich ankommen, geht es erstmal nach Traiskirchen. Das dortige “Erstaufnahmezentrum” ist seit Jahren immer wieder Gegenstand von innenpolitischen Debatten. Was dabei völlig untergeht, sind die unwürdigen Umstände, unter denen Geflüchtete untergebracht werden. Während die politisch Verantwortlichen die Situation in der Kleinstadt bewusst eskalieren lassen, erfahren die Schutzsuchenden von anderer Seite zunehmende Solidarität und Unterstützung. Eine Gruppe ehemaliger Asylwerber*innen, die vor Jahren selbst im Erstaufnahmezentrum untergebracht waren, widmet heute den Großteil ihrer Zeit der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe.
Der niederösterreichische Wahlkampf hat einmal mehr die derzeit einzige Strategie der ÖVP zum Ausdruck gebracht: auf dem Rücken von geflüchteten Menschen auf Stimmenfang gehen. Der drohende Verlust bei den Landtagswahlen im Jänner 2023 beschäftigte die Volkspartei bereits lange davor. Nachdem der ÖVP neben Korruption und Anti-Migration kaum noch Eigenschaften zugeschrieben werden, sollte letzteres zum zentralen Wahlkampfthema hochsterilisiert werden. Das ging nämlich nicht von alleine. Die Zahlen von in Österreich ankommenden Schutzsuchenden waren in den letzten Monaten zwar gestiegen, aber weit weg von jenen in den Jahren rundum 2015. Innenminister Karner, der selbst aus der niederösterreichischen ÖVP kommt, simulierte bereits im Oktober 2022 eine Platznot, in dem er etliche Asylwerber*innen in provisorisch aufgestellten Zelten unterbrachte. Auch in der roten Gemeinde Traiskirchen sollte offensichtlich eine bewusste Eskalation provoziert werden. Das dortige Erstaufnahmezentrum steht unter der Verwaltung des Innenministeriums und füllte sich mit näherrücken des Wahltermins zunehmend. Am Höhepunkt waren mit über 2000 Bewohner*innen, 5 mal so viele Menschen untergebracht, wie eigentlich vorgesehen. Gleichzeitig erreichen sämtliche Bundesländer, außer Wien und dem Burgenland, seit Jahren die für sie vorgesehenen Zahlen an Flüchtlingsunterbringungen nicht.
Das niederösterreichische Erstaufnahmezentrums war bereits mehrfach im Fokus der Öffentlichkeit. Im Jahr 2015 war mit über 4000 Bewohner*innen jede Belastungsgrenze überschritten. Auffallend war schon damals die große Solidarität der Traiskirchner Bevölkerung, die durch Projekte wie “Connect Traiskirchen” versuchte, Schutzsuchende in dieser schwierigen Lage zu unterstützen. Das Gesicht der 17.000 Einwohner Stadt war Bürgermeister Andreas Babler. Während die Sozialdemokratie in den letzten 10 Jahren fast landesweit Verluste einfuhr, baute er seine Mehrheit trotz der schwierigen Umstände auf zuletzt 72% aus. Nachdem andere Parteien die Situation im Quartier nutzten, um Angst und Stimmung gegen die Bewohner*innen zu verbreiten, ließ Babler keine Gelegenheit aus, um seine Solidarität mit Schutzsuchenden zu erklären. Babler ist einer der wenigen, die es in den letzten Jahren geschafft haben, mit einer offensiven, glaubwürdigen und vor allem solidarischen Position in der Migrationsdebatte Wahlen zu gewinnen.
Bereits im September 2022 meldete sich Babler sehr deutlich zu Wort. In einer Videobotschaft auf Social Media erklärte er der Öffentlichkeit, bereits vor Wochen an Innenminister Karner herangetreten zu sein und vor einer Überlastung der Einrichtung gewarnt zu haben. Die Reaktion des Innenministeriums waren zusätzliche Verlegungen nach Traiskirchen und die Drohung, dass auch Zelte bereitstehen würden. Es war billiger Intensivwahlkampf, den die ÖVP auf dem Rücken tausender Schutzsuchender austrug. Während das Thema medial breit ausgeschlachtet wurde, blieb der wichtigste Aspekt verborgen: Die Auswirkungen auf jene, die im Quartier wohnen.
“Wer zu spät kommt, bekommt nix”
Wer am Erstaufnahmezentrum vorbeigeht, könnte meinen, er passiere gerade ein Gefängnis. Das Camp-Areal ist von hohen Mauern und Zäunen umgeben, an jeder Ecke stehen mehrere Überwachungskameras. Jedenfalls wird alleine durch die optische Gestaltung bereits ein negatives Image erzeugt. Einerseits bei den Bewohner*innen, die in diesem “Gefängnis” wohnen müssen, andererseits bei der Bevölkerung, der damit der Eindruck vermittelt wird, Geflüchtete müssen unter den gleichen Bedingungen untergebracht werden wie Schwerverbrecher. Immer wieder hört man vom katastrophalen Zustand des Camps, doch was sich genau hinter den Mauern, Zäunen und Überwachungskameras abspielt, weiß außer den Bewohner*innen niemand. Für Journalist*innen oder Lokalpolitiker*innen ist die Besichtigung des Erstaufnahmezentrums nicht möglich. Wir hatten das Glück, mit Mohammad zu sprechen, der im Winter selbst ein Monat lang in Traiskirchen untergebracht war. Dabei bestätigt er nicht nur jene Vermutungen über die herrschenden Zustände im Inneren, sondern bringt noch weitere haarsträubende Details ans Tageslicht.
Grundsätzlich gibt es dreimal am Tag eine Essensausgabe. Einmal um sieben Uhr in der Früh, Mittagessen um elf und Abendessen um 17 Uhr. Doch in der Praxis zeigt sich schnell, dass das nicht zwangsläufig bedeutet, dass alle mit genug Essen versorgt sind. Denn schon eine kleine Verspätung beim Frühstück reiche laut Mohammad aus, um nicht mehr zur Warteschlange zu gelangen und leer auszugehen. Warteschlangen gehören im Erstaufnahmezentrum zum Alltag: Wer gegen Jahresende ein Abendessen oder sein monatliches Taschengeld von 40 Euro wollte, musste im Freien bei Minusgraden oft über eine Stunde lang anstehen - für Essen, “das in jedem anderen Camp besser war”.
Ähnlich unwürdig sind die Schlafgegebenheiten, die man im Lager vorfindet. In der Regel sind pro Zimmer acht Personen untergebracht, alle in Stockbetten auf sehr engem Raum. Als das Camp im vergangenen Herbst an die Grenzen seiner Kapazitäten stieß und die vorhandenen Schlafplätze nicht mehr ausreichten, wurden Geflüchtete zunehmend auf den Gangboden verwiesen. Auch Mohammad verbrachte seine ersten Nächte auf einer Matratze am Flur. In den wenigen Wasch- und Badezimmern, hält man sich aufgrund der katastrophalen hygienischen Situation meist nur so lang auf, wie unbedingt nötig. Zwar werden diese einmal täglich gereinigt, bei einem um das vierfache überfüllten Lager, ist das aber bei weitem nicht ausreichend. Auch sonst wird seitens des Personals im Camp kaum mit den Bewohner*innen kommuniziert. Es gibt kaum Übersetzer*innen, im Falle von Verlegungen werden Namen und der neue Standort laut verlesen. Doch Mohammad hegt keinen Groll gegen jene, die in Traiskirchen arbeiten: “Die Mitarbeiter*innen im Camp geben ihr Bestes - verantwortlich für diese Zustände sind andere.”
“Wer zu spät kommt, muss frieren”
Im Camp gilt ab 22:00 eine strikte Sperrstunde, an die sich die Geflüchteten besser halten, wenn sie die Nacht nicht in der Kälte verbringen wollen. “Wer später als 22:00 nach Hause kam”, erzählt uns Mohammad, “wurde nicht mehr ins Lager gelassen und ausgesperrt.” Bis zu 50 Menschen pro Nacht wurden so mitten im Winter von der Behörde auf die Straße gesetzt und sich selbst überlassen. Andere erlebten dasselbe Schicksal aus anderen Gründen: Ende 2022 wurden mehrere Geflüchtete aus den verschiedensten Unterkünften in ganz Österreich nach Traiskirchen geschickt. In Traiskirchen angekommen, wollte man allerdings nichts von einer Verlegung wissen und verweigerte ihnen den Zutritt. Eine offenbar bewusst provozierte Schikane, die erst abgestellt wurde, nachdem medial darüber berichtet wurde. Dass die Ausgesperrten in der Nacht nicht erfroren sind, verdanken sie vor allem einem: Delshad Bazari. 2014 war er als Asylsuchender selbst in Traiskirchen untergebracht. Die damaligen Zustände im Lager sind den heutigen ähnlich: Heillos überfüllt, unhygienisch und keine Möglichkeiten für Bewohner*innen irgendeiner Tätigkeit nachzugehen. Delshad hat mittlerweile ein Bleiberecht, ist Tischler und vor einiger Zeit mit seiner Familie wieder nach Traiskirchen gezogen. Er weiß, was Geflüchtete hier durchmachen und hat sich dazu entschieden, nicht länger zuzusehen. Jeden Abend steht er mit anderen Helfer*innen vorm Camp und gibt Tee aus. Nicht nur, weil die Schutzsuchenden im Camp keine warmen Getränke erhalten, sondern auch, um all jene, die über Nacht ausgesperrt werden, abzupassen und ihnen einen warmen Schlafplatz zu organisieren. Über 1.000 Menschen haben Delshad und Co. in den letzten Monaten so vor Obdachlosigkeit und einem möglichen Kältetod bewahrt, darunter teils sechsjährige Kinder. Der Camp-Security, der keine andere Wahl hat, als die Weisungen seiner Vorgesetzten zu befolgen, war einst selbst nach Österreich geflüchtet und in Traiskirchen untergebracht. Auch er fühlt große Solidarität mit den Camp-Bewohner*innen, würde allerdings seinen Arbeitsplatz riskieren, wenn er Personen (regelwidrig) nach 22:00 ins Camp lässt. Und so bekommt Delshad regelmäßig Nachrichten mit der Info von ihm, wie viele Menschen wo vor verschlossenen Camp-Türen stehen. “Wir waren in derselben Situation, wir wissen wie das ist” begründet Delshad die Solidarität, die ehemalige Camp-Bewohner*innen in Traiskirchen jeden Tag aufbringen. Solidarität, die nicht nur bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit zum Vorschein kommt. Auch Delshads Herzensprojekt, der Garten der Begegnung, wird von ehemaligen Asylwerber*innen getragen.
“Das beste an Traiskirchen ist Delshads Garten”
2016 startete Delshad gemeinsam mit anderen Freiwilligen wie Nikolai Ritter das Projekt “Garten der Begegnung”. Was zunächst dazu gedacht war, Geflüchteten mit Gartenarbeit in den Sommermonaten eine Beschäftigung zu bieten, ist mittlerweile auch im Winter gut besucht. Der Garten ist ein Ort, der die Bewohner*innen des Camps und die Traiskirchner Bevölkerung regelmäßig zusammenbringen soll. Jeden Samstag gibt es neben Linsensuppe und Lagerfeuer verschiedene Möglichkeiten des Austausches. Von Brett- und Bewegungsspielen über gemeinsames Zeichnen und Basteln bis hin zu Schachturnieren war bereits alles am Programm. Dass den Camp-Bewohner*innen sehr viel am Garten liegt, sieht man an den Besucher*innenzahlen. Selbst bei stürmischem Wetter und Minusgraden, kamen im Dezember und Jänner regelmäßig an die hundert Schutzsuchende. “Das Beste an Traiskirchen, ist Delshads Garten” fasst Mohammed die Sichtweise der Camp-Bewohner*innen in Traiskirchen zusammen. Denn dass Schutzsuchende in Österreich regelmäßig als politische Spielbälle und Sündenböcke benutzt werden, spiegelt sich auch in ihrem Alltag wider. Während sie fast überall auf Misstrauen und Skepsis stoßen, erfahren sie von Delshad und seinen Kolleg*innen ungewohnte Wertschätzung. “Am Anfang dachten viele, wir machen das nur weil wir einen bezahlten Auftrag haben. Es hat ein bisschen gebraucht, bis sie realisiert haben das wir freiwillig da sind - und uns über jeden und jede freuen, der wir helfen können”.
Neben Gartenarbeit und Unterhaltung gibt es im Garten der Begegnung aber auch manchmal weniger lustige Momente. Denn auch wenn der Garten Ablenkung und Freude bieten soll, bleiben die individuellen Schicksalsschläge und Zukunftsängste der Geflüchteten weiter präsent. Shahid etwa, der gemeinsam mit einer freiwilligen Helfer*in verzweifelt um seinen Asylstatus kämpft, um möglichst rasch seine Familie nach Österreich holen zu können. Oder Ibrahim, der gerade von seiner Verlegung nach Kärnten erfahren hat und seine Freunde und einzigen Bezugspersonen dadurch möglicherweise nie wieder sehen wird. Sollte sich aber die große Hoffnung - ein Bleiberecht in Österreich - erfüllen, ist sich Ibrahim sicher, dass er den Garten der Begegnung wieder aufsuchen wird. Denn wie Delshad, der Camp-Security und die vielen anderen Helfer*innen zeigen, bleibt die Solidarität mit jenen, die heute dasselbe durchmachen wie man einst selbst, aufrecht. Auch bzw. gerade dann, wenn man es geschafft hat, sich selbst aus dieser misslichen Lage zu befreien.
Text: Michael Kahler, Noah Straubinger